Nur ein Vogelkind

Es war an einem schönen Sonntag im Frühling. Die Sonne liess den nahen Sommer schon erahnen. Unsere Familie traf sich in Grossmutter’s Garten zu Kaffee, Kuchen und Kaffeeklatsch. Die Kinder spielten Fangen und Verstecken ums Haus herum.

«Mami, Mami!« hörte ich plötzlich meinen kleinen Sohn mit ungewohnt besorgter Stimme rufen. Seine kleinen Händchen hielten etwas fest umschlossen. Ganz vorsichtig kam er zu mir hin und legte mir das Etwas behutsam in meine Hände - ein nacktes Vogelkind. Dank Mutter's Blumenrabatte hatte es den Sturz aus dem Nest überlebt.

Da sass ich nun mit einem kleinen, nackten Vogel in der Hand. Seine Augen waren fest verschlossen, aber eine dünne, piepsende Stimme forderte unmissverständlich nach Futter.

"Den wirst du nie durchbringen" keiner in der Familie gab dem Vogelkind eine Überlebenschance. Ich weiss, ein Jungvogel fällt nie ohne Grund aus dem Nest, doch was sollte ich tun? Töten? Nein, das konnte ich meinem kleinen Sohn nicht antun. Der Vogel musste eine Chance bekommen!

»Wir müssen ihm ein Nest bauen!« riet ich. Spielen war jetzt war für die Kinder nicht mehr wichtig. Eifrig sammelten sie alles mögliche an Nestmaterial. Warm und bequem sollte das künstliche Vogelnest werden. Das nächste grössere Unterfangen war jetzt die Futterbeschaffung. Mit spitzen Fingern brachten die Kinder Regenwürmer, viel zu grosse und zu dicke. Mit der Rasierklinge von  Grossvater war das Problem gelöst und es funktionierte, das Vögelchen schluckte die klein geschnittenen Wurmstücke hastig und gierig, als wäre es am verhungern.

Aber wohin mit dem Vogel am Montag, wenn ich wieder zur Arbeit musste? Vögel müssen von den Eltern ununterbrochen gefüttert und umsorgt werden. Den Findling konnte man unmöglich so lange allein lassen. Kurzentschlossen nahm ich ihn am Montagmorgen einfach mit. Am Arbeitsplatz war er dann schnell die Attraktion. Gut gemeinte Vorschläge kamen von allen Seiten und es wurde nach Tipps in Fachbüchern nachgeschlagen. Meine Arbeitskolleginnen interessierten sich jetzt auch für die Vogelaufzucht. Sogar der Chef wusste manchen guten Rat und sah als erster jeden Morgen nach dem adoptierten Vogelkind. Und ganz schlaue Mitarbeiter machten sich jetzt schon Gedanken, wie ich dem Vogel später das Fliegen beibringen würde.

Die Vogelfedern waren noch in kleinen Stiftchen versteckt, und verwandelten sich nach und nach in goldgelben Flaum. Eine schwarze Haube entstand auf dem Kopf. Es wuchs also eine hübsche Kohlmeise heran. Ihr Hunger aber glich viel eher dem eines Raben. Auf jeden kleinsten Laut reagierte sie mit weit aufgerissenem Schnabel und lautem Gezeter. Gehackte Nüsse und Haferflocken standen jetzt zusätzlich auf dem Speiseplan, und Wasser trank sie aus einer Pipette.

Nachmittags, zu Hause, beteiligten sich immer noch die Kinder an der Futtersuche und brachten Würmer aus dem Garten. Selbst unser damaliger kleiner Hund, ein tibetisches Tempellöwchen, verfolgte interessiert das Geschehen. Friedlich wie er war, durfte er die Meise beschnuppern. Sein keck auf dem Rücken getragenes Ringelschwänzchen wedelte dann vor Freude.

Nach ein paar Wochen versuchte die Meise zum ersten Mal zu fliegen. Vom Rand des Nestes, und auch von meinem Finger aus, übte sie fleissig starten und landen. Mein kleiner Sohn und ich sassen dann auf dem Boden und beobachteten entzückt diese Fortschritte. Bald flatterte sie von einem zum anderen. Sie hatte ihre Chance wahrgenommen und gedieh. Für mich war das der Lohn meiner wochenlangen Pflege. Ein glücklicher Moment und ein kleines Wunder.
 
Dann - interessiert wie immer verfolgte auch unser Tempelhündchen die Flugstunden. Er stand es auf und ging auf steifen Beinchen langsam auf die umherhopsende Meise zu und stupfte sie mit der Nase unsanft zu Boden. Die Meise war sofort tot. Unsere kleine, glückliche Welt war in Sekunden zerstört. Wir brachten kein Wort hervor. Geschockt und kleinlaut schlich mein Sohn aus dem Zimmer. Nicht nur für ihn, auch für mich war die Welt auf einmal nicht mehr in Ordnung. Unser Hund war zum Mörder geworden, unser sonst so sanftmütiges Tempelhündchen.


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